06.06.16

Sommerurlaub mit Gnitzen, Mücken und Rentieren

Eine Gepäckfahrt auf dem Harkan in Mittelschweden
(Uwe Kohlmann, September 2015)

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„Sag mal geht’s noch? Wir haben Sommer und du erzählst mir was von Bodenfrost? Noch dazu Mücken, Gnitzen und sonstiges Getier? Und dann muss ich auch noch 2 Tage im Auto verbringen um da hin zu kommen? Das nennst du Urlaub?“ Ok, Begeisterung klingt anders … aber es gelang unserem Sohn Eduard und mir doch noch, Barbara davon zu überzeugen, dass eine gewisse Chance besteht, den Urlaub ohne größere körperliche Schäden zu überleben.

Sohnemanns Wunsch war es, eine Gepäckfahrt auf einem möglichst einsamen Fluss zu machen, mit wildem Zelten, Angeln, Lagerfeuer, Brotbacken und allem was dazu gehört. Die Definition von „einsam“ war: keine Menschen außer uns! Da es solche Flüsse in Europa außer in Skandinavien und dem nördlichen Russland eigentlich nicht mehr gibt, war die Suche schon beschränkt und es war damit leider auch schon klar, dass unter „allem was dazu gehört“ mit Sicherheit Milliarden von Mücken zählen.

Eine Recherche im Internet ergab eine Fülle von interessanten Flüssen in Schweden. Norwegens Flüsse sind entweder für eine Befahrung mit Kanadier zu wild oder sind – wie der Glomma – nicht einsam genug. Aber auch in Schweden galt es Kompromisse zu finden. Die Flüsse Lapplands sind zwar einsam, aber aufgrund der Topografie des nördlichen Schwedens wechseln sich auf den meisten dieser Flüsse lange Seeabschnitte mit teils heftigen Stromschnellen ab, die dann (infolge des Faktors „einsam“) auch noch schwierig zu umtragen sind. Die weiter südlich gelegenen Klassiker wie Klarälven oder Svartälven sind zwar Ende August alles andere als überlaufen, werden aber doch meistens von einer Straße begleitet. Die Auswahl war also nicht einfach … bis wir den Harkan fanden …den idealen Fluss für eine stressfreie mehrtägige Wanderfahrt die dennoch das Prädikat einsam verdient.

Nach kurzer Überzeugungsarbeit (siehe oben) konnte sich auch Barbara für das Vorhaben erwärmen und schon konnte es losgehen. Klar, die Anfahrt zieht sich: wir haben die Route über Rostock gewählt. Auf der kurzen nächtlichen Überfahrt nach Trelleborg haben wir Isomatten und Schlafsäcke ausgerollt und an einer überdachten und überraschend trockenen Stelle an Deck 5h schlafen können … der völlig überbelegte kleine Raum mit Pullmann-Sitzen war ohne hin nicht attraktiv. Von Trelleborg ging es dann über Göteborg und später den Inlandsvägen (E45) hoch bis nach Östersund. Insgesamt knapp 2000km aber die Fahrerei in Schweden ist wegen der schönen Landschaft doch recht kurzweilig.

Nicht weit von Östersund liegt das kleine Städtchen Lit, in dem sich ein schöner Campingplatz mit Kanustation befindet, der sich als Endpunkt unserer Tour mehr als aufdrängt. (www.litscamping.com) Die Kanustation vermietet neben Kanadiern auch komplette Camping-Ausrüstungen und bietet voll ausgerüsteten Paddlern auch einen Shuttle-Service an. Während die Preise für den Verleih sehr fair sind wird beim Shuttle kräftig zugelangt. Wir entschieden uns für die Fahrt mit dem eigenen Auto, da die Einsatzstelle problemlos mit dem einmal täglich (außer Wochenende) verkehrenden Bus für knapp 30€ erreichbar ist. Das Abstellen des Autos ist in Schweden ohnehin kein Problem.

Nachdem wir überzähliges Gepäck am Zeltplatz lassen konnten, machten wir uns mit Sack, Pack, Booten und Essen für 9 Tage (man weiss ja nie, ob man abwettern muss) auf den Weg zur Einsatzstelle in den Hotagen-See nach Rötviken. Man kann auch noch 20-30km weiter oben einsetzen, hat dann aber die ganze Zeit die Straße neben sich sowie 2 unangenehmere Umtragestellen. In Rötviken gibt es einen sehr schönen Zeltplatz mit den obligatorischen Hütten, auf dem man auch ideal an einem kleinen Strand (vorher fragen! www.rotvikenscamping.se) einsetzen kann. Die letzte Einkaufsmöglichkeit gibt es in Föllinge auf dem Weg nach Rötviken. Hier kann man theoretisch – in Verbindung mit einem Fußmarsch von 3km einfachen Weges – auf der halben Strecke seine Vorräte wieder auffüllen. Apropos Planung: die Kartensituation ist etwas mau … den größten Teil der Strecke kann man aber mit der Terrängkartan 1:50.000 Blatt 701 Föllinge abdecken, ggf. auch das südlich anschließende Blatt 693. Nach Norden, d.h. den größten Teil des Hotagen-Sees gibt’s nichts. Die verfügbaren Karten von Openstreetmap sind für diese Region zwar ausreichend für die grobe Positionsbestimmung, aber hie und da fehlen Inseln oder Flußbiegungen … was nicht ist kann ja noch werden.

Wir hatten schon alles dabei und konnten daher direkt los … zunächst ein wenig wackelig, da Ede und ich im Kanadier auch fast das ganze Gepäck hatten … insgesamt mehr als 250kg, die das Wasser recht nah an den Rand des Bootes brachten und uns eine vorsichtige Fahrweise in Bezug auf die Wellen abnötigten. Gut, dass wir nicht auch noch Trinkwasser mitnehmen mussten, der Harkan und seine Seen haben durchgehend Trinkwasserqualität.

Da wir es morgens recht ruhig haben angehen lassen, fuhren wir nur 5km bis zu einer kleinen, nahe am Festland gelegenen Insel. Es wird grundsätzlich davon abgeraten, das Lager auf den verlockenden Inseln mitten im See aufzuschlagen, da die sich schnell ändernden Wetterverhältnisse eine Weiterfahrt für offene Boote gelegentlich unmöglich machen. Diese Insel ist jedoch perfekt, und das Wunder geschieht: Sonne, 20° Celsius, keine Mücken! Jetzt fehlt nur noch der Elch am Ufer (um es vorweg zunehmen: wir haben außer Elchkötteln nichts elchiges gesehen. Wir haben uns daher darauf verständigt, dass 20 Rentiere = 1 Elch sind, demnach hätten wir dann doch ein paar Duzend Elche gesehen).

Und noch ein Wort zum Lagerfeuer: obwohl man manchmal von mehr Wasser umgeben ist, als eine recht ist, darf man die Gefahr eines Waldbrandes nicht unterschätzen. Auf dem Weg zum Hotagen sind wir an zwei brennenden Inseln vorbei gekommen. Der Grund liegt in der Bodenbeschaffenheit. Unterhält man ein Feuer auf dem dort üblichen torfigem Boden, kann das Feuer unterirdisch auch dann weiterbrennen, wenn man glaubt, das Feuer gelöscht zu haben. Wir konnten das auch beobachten, obwohl wir in der Regel unser Feuer in bestehende Feuerstellen oder auf felsigem Untergrund anfachten. Zwei Stunden nach dem Löschen sahen wir, dass einen Meter von der Feuerstelle der Boden qualmte. Wir löschten großräumig mit Unmengen von Wasser und ließen uns das eine Warnung sein.

Zurück zum Paddeln: der Harkan fließt zunächst, wie viele schwedische Flüsse, durch eine Kette von langgezogenen Seen, die durch kurze Stromschnellen verbunden sind. Der Hotagen ist dabei mit ca. 37km der längste See und wir haben die Fahrt auf zwei Etappen verteilt. Obwohl rechts und links nur Wald zu sehen sind, wird es nicht langweilig. Der anhaltende Gegenwind erforderte mit dem vollen Kahn unsere ganze Aufmerksamkeit. Außerdem querten wir den See mehrmals in der – irrigen – Annahme, dass die jeweils andere Seite weniger Wind hätte. Mehrere Pausen konnten mit ausgiebigem Blaubeersammeln verbracht werden. Leider brachte der Wind auch kühlere Temperaturen und etwas typischeres Schwedenwetter … sprich: Regen. Nach etwa 20km fanden wir etwas südlich der üblichen Einsatzstelle des Kanuverleihs (bei Alviken) eine schöne Stelle, was aufgrund der in der Regel recht steilen Ufer des Sees nicht ganz so einfach war, wie ursprünglich vorgestellt. Mit dem Schwedenwetter kamen dann auch die Mücken … sanitäres Entspannen war somit nur noch bei starkem Wind, oder mit Unmengen von Mückenmittel wirklich entspannt. Für alles andere hilft das Lagerfeuer und das mückenfeste Innenzelt.

Der nächste Morgen begann mit Dauerregen. Da wir keinen Zeitdruck hatten, verbrachten blieben wir bis nach Mittag lesend im Zelt. Irgendwann hatten wir – bzw. eigentlich nur ich – den Eindruck, dass der Regen nachließ und ich überredete den Rest, das Lager abzuschlagen. Im strömenden Regen paddelten wir dann die restlichen 12km zum Ende des Sees. Hier zwingt ein Kraftwerk zu einer Portage. Man hat dabei zwei Alternativen: kurz und knackig oder langwierig und sicher. Wir entschieden uns nach Besichtigung der Situation für letzteres. Die Einsatzstelle direkt hinter dem Wehr ist nicht wirklich gut, dann geht es etwas ruppig in WW1 weiter bis zu einer Stufe, die mit einem Kleinboot wahrscheinlich (in Fahrtrichtung) ganz rechts machbar wäre, aber mit Langbooten nicht wirklich erfolgversprechend ist. Auch hier ist die Umtragung durchs Gestrüpp nicht ganz einfach. Wir packten also die Boote auf die Bootswagen und zogen sie auf einer Schotterstraße einen Kilometer (nach Osten) bergauf und dann nochmal 1.5km einen Forstweg bis zur beschilderten Einsatzstelle. Eigentlich kann das niemandem Spaß machen, aber die Unmengen von Blau- und Walderdbeeren, machten diese Umtragung zu einem kulinarischen Leckerbissen. Wieder im Wasser fanden wir eingangs des Lövsjön (sjön heisst See) auf einer Landzunge rechterhand einen traumhaften Lagerplatz … windbedingt ohne Mücken!

Auf den folgenden Tag waren wir sehr gespannt, da die Lövsjöströmmen (strömmen steht für Stromschnellen) zwischen dem Lövsjön und dem kleinen Ockern See passiert werden mussten. Der Lövsjön war dann auch schon nach 5km durchquert und das Rauschen der Schnelle wurde immer lauter. Nach eine kurzen Besichtigung war aber klar, dass hier keine Schwierigkeiten zu erwarten waren. Mit gutem Zug fließt hier der Harkan für 1,5km einfach ein wenig schneller. Wir fassten in unserem Kanadier nicht einmal Wasser. Der Ockern wird übergangslos zu einem aufgestauten Teil des Harkan. Hier kommen wir erstmals kurz der Zivilisation nahe. Eine Hauptstraße (1 Auto/ 10 min) verläuft kurz neben dem Fluss und überquert ihn dann. Die Suche nach einem weiteren Lagerplatz im gestauten Harkan erweist sich als schwierig und wir landen etwas enttäuscht nach 14 km Tagesleistung am Kraftwerk von Nasforsen. Die einfache und kurze Portage auf die andere Seite eröffnete uns aber einen perfekten Lagerplatz an der Einsatzstelle mit Plumpsklo und Windschutzhütte.

Der Dauerregen des nächsten Tages in Verbindung mit der recht komfortablen Lagersituation führte zur Entscheidung den folgenden Tag lesend zu verbringen. Eine kurze Wanderung in die Metropole der Gegend, Föllinge, versorgte uns mit Frischfleisch, Milch und lecker Kaffee.

Ausgeruht ging es dann auf die letzten beiden Etappen. Nach etwa 10km über den Sandviksjön ging es zu den Edsforsen (forsen = Fälle), laut DKV Kanuführer WWII. Jep, das sollte man sich vorher ansehen. Auf etwa 200m Breite geht’s hier 1km gut verblockt bergab. Nach kurzer Diskussion entscheiden wir für uns eine Route, die möglichst wenige Felskollisonen verspricht und gegen die einfache Umtragung über die Forststraße auf der rechten Seite. Die Routenbeschreibung empfiehlt ohnehin die Route rechts der Insel. Gesagt, getan… und nach wenigen Metern sind wir schon weitab der geplanten Route und kämpfen uns durch die Felsen. Hut ab vor Barbara, die mit ihrem Seekajak locker durchkommt. Ede und ich schlagen uns auch ganz gut – mit Ausnahme eines kurzen Momentes der Unentschiedenheit (rechts oder links?) der unser Boot mitschiffs auf einen großen Brocken aufsetzen lässt. Aber nachdem wir ein paar dutzend Liter Wasser gelenzt haben und mit rhythmischen Einsatz von über 200kg Köpergewicht das Boot wieder ins Wasser gebracht haben, geht es spritzig weiter. Nach 2km ist der Spaß aber leider vorbei und der vielleicht schönste Teil der Tour beginnt.

Der Harkan schlängelt sich nun 35km durch ein wunderschönes Tal, Teils mit flotter Strömung teils ruhiger. Wenn man nur eine 2-Tagestour machen möchte sollte man daher am Edsforsen oder Nasforsen einsetzen. Dieser Teil des Harkan ist auch offiziell als Kanuweg ausgewiesen. Keine Ortschaften, keine Straße, nur gelegentlich eine Anglerhütte und jede Menge Unterstände mit Lagermöglichkeit. Insgesamt ist hier aber das Herrschaftsgebiet der Fliegenfischer (die Angelkarte für den Fluss bekommt man übrigens an der Kanustation für 20€/Woche). Das Verhältnis zwischen Fischern und Paddlern ist sehr entspannt und man grüßt sich freundlich.

Die Zeit verging wie im Flug in der abwechslungsreichen Landschaft. Noch eine Nacht in einer der Schutzhütten, noch eine Umtragung 6km vor Ende am Kraftwerk von Högforsen darauf anschließend ein letzter flotter Teil durch eine Schlucht … und dann ist man schon in Sichtweite der Eisenbahnbrücke, die die Aussatzstelle und das Ende der Tour am Zeltplatz von Lit anzeigt. Dort angekommen konnten wir unsere gelagerten Sachen in die unverbindlich reservierte Hütte bringen, in Lit ein wenig einkaufen und die Kalorienspeicher wieder auffüllen. Die Rückholung mit dem Bus war wie erhofft unspektakulär, die Familie verbrachte die 5h im schönen Östersund mit Shoppen, Essen und Lesen. Noch ein Wort der Warnung in Bezug auf die schwedischen Busse: nach der Abfahrtszeit am Start der Busroute kann man die Uhr stellen, aber wenn der Fahrer die Möglichkeit hat, Zeit aufzuholen, dann tut er das. Wir waren etwa 45 Minuten vor der planmäßigen Ankunft in Rötviken, d.h. der Bus ist an nahezu allen Haltestellen erheblich vor der angekündigten Zeit durchgerauscht. Bei einem Bus pro Tag kann dies unangenehme Folgen haben.

Fazit:
Der Harkan ist sicher kein ursprünglicher, wilder Fluss, aber nahe dran und wir haben ihn Ende August für uns alleine gehabt, nur bei der letzten Umtragestelle haben wir ein Ruderboot gesehen. Die Fliegenfischer gehören zu schwedischen Flüssen wie Elchköttel, Blaubeeren, Bäume, Mücken, Regen, sauberes Wasser und grandiose Landschaft … es war also alles perfekt. Wir haben von Paddlern in Nordschweden gehört, die sich, mangels Zufahrtswegen, mit dem Helikopter an die Einsatzstelle eines Wildflusses haben fliegen lassen … um dann an jeder Flussbiegung einem Angler zu begegnen. Auf die Frage, wie diese denn in diese Einsamkeit gekommen sind antworteten die mit großer Selbstverständlichkeit, dass sie auch mit dem Helikopter gekommen seien, wie denn sonst?

Die weite Fahrt lohnt sich natürlich nicht, wenn man ‚nur’ die eine Woche auf dem Harkan fährt. Wir sind anschließend noch zehn Tage wandern gewesen … aber das gehört nicht in einen Paddelartikel … war aber trotzdem super!